Nachwuchsforschungsgruppe der Hans-Böckler-Stiftung

Den Ausgangspunkt für die NFG bilden seit 2014 zu beobachtende empirische Veränderungen im Phänomenbereich rechtsextreme Gewaltdelinquenz. Polizeiliche Statistiken sowie Statistiken von zivilgesellschaftlichen Organisationen verzeichnen seit dem Frühjahr 2015 einen sprunghaften Anstieg von Gewaltdelikten mit einem mutmaßlich rechtsextremen Hintergrund. Nachdem in diesem Bereich bereits 2014 ein Anstieg von 22,9 % gegenüber 2013 zu verzeichnen war, ließen sich auch in den Jahren 2015 und 2016 Anstiege in Höhe von 44,3 % und 14,3 % im Vergleich zu den jeweiligen Vorjahren beobachten.[1]

Im Jahr 2016 wurden damit in Deutschland im Durchschnitt 4,6 rechte Gewalttaten pro Tag registriert. Die genannten Zahlen spiegeln indes nur das offiziell registrierte Hellfeld wieder; dem steht ein Dunkelfeld gegenüber, das in diesem Bereich einen erheblichen Umfang aufweisen wird. Zu berücksichtigen ist hier einerseits, dass Betroffene rechtsextremer Gewalt – wie Menschen mit Migrationshintergrund, Behinderte oder Obdachlose – aus verschiedenen Gründen seltener Anzeige erstatten als andere Personen. Andererseits muss die politische Motivation von der Polizei gesondert festgestellt werden, damit die jeweilige Tat in der Statistik als rechtsextremistisch motiviert erfasst wird. Die Aufklärungsquote politisch motivierter Gewalttaten lag 2016 bei 59,9 % und ist im Vergleich zum Vorjahr stabil (2015: 58,1 %).[2]

Neben der Zunahme der Gewalttaten sind auch eine Ausweitung der Gruppe Betroffener und eine veränderte Qualität festzustellen. Einschlägige Taten richteten sich in den vergangenen Jahren verstärkt etwa auch gegen Personen mit Pro-Asyl-Einstellung, seien es PolitikerInnen, JournalistInnen oder in der Flüchtlingsarbeit engagierte Personen.[3] Auch die rassistisch motivierte Gewalt gegen Kinder hat zugenommen.[4] 2016 waren nach Angaben des Verbands der Beratungsstellen rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt 9 % aller Betroffenen von rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Ostdeutschland, Berlin und NRW unter 14 Jahren alt. Der Verband spricht von einer zunehmenden Brutalität bei rechten Übergriffen.[5] Diese Entwicklungen deuten darauf hin, dass auch die Qualität der Delikte eine Steigerung erfahren hat. Dies zeigt sich auch darin, dass Gewaltdelikte gegen Flüchtlingsunterkünfte in den vergangenen Jahren eine erhebliche Rolle spielten und als besonderes deliktisches Phänomen eingeordnet werden müssen. Von 2014 zu 2015 kam es hier zu einer Versechsfachung der Gewalttaten, wobei 2016 ein hohes Niveau bestehen blieb.

Vor diesem Hintergrund hat die NFG das Ziel, einen grundlegenden Beitrag zu einem besseren wissenschaftlichen Verständnis von Taten, TäterInnen und Reaktionen im Phänomenbereich rechtsextremer Gewaltdelinquenz zu leisten. Erstens soll die strukturelle Veränderung und deutliche Zunahme rechtsextremer Gewaltdelinquenz untersucht werden. Zweitens wird von der NFG thematisiert, inwiefern die zunehmende Gewaltdelinquenz auf veränderte Gruppen von TäterInnen zurückgeführt werden kann. Zugleich gibt es deutlich Anzeichen für eine zunehmende Radikalisierung in Teilen der rechtsextremen Szene. So sind die Strafverfolgungsbehörden in den vergangenen Jahren in verschiedenen Bundesländern gegen einschlägige Gruppierungen vorgegangen, die Anschläge begangen oder geplant haben. Drittens stellt sich die Frage nach der organisationalen Wahrnehmung rechtsextremer Gewaltdelinquenz bei den Strafverfolgungsbehörden und der Entwicklung und Implementierung von Reaktionen infolge einer solchen Wahrnehmung und Bewertung. Aus kriminologischer Sicht stellt die Erfassung und Bewertung von Kriminalität einen Definitions- und Zuschreibungsprozess dar. In besonderem Maße gilt dies für stark wertungsoffene Kategorien, wie etwa eine rechtsextreme Tatmotivation und Rechtsterrorismus. Wie und in welchem Umfang eine solche von den Strafverfolgungsbehörden geprüft und angenommen wird, ist zum einen bedeutsam dafür, wie dieses besondere Deliktfeld statistisch erfasst und gesellschaftlich wahrgenommen wird.

Diese spezifisch kriminologisch-strafrechtliche Perspektive ist geeignet, wesentliche und grundlegende Erkenntnisse für die kriminologische wie sozialwissenschaftliche Befassung mit Rechtsextremismus und Gewalt im Allgemeinen sowie die diesbezügliche gesellschaftspolitische Debatte zu generieren. Dies ist nicht nur darin begründet, dass der beschriebene Wandel im Kontext des allgemeinen gesellschaftlichen Rechtsrucks thematisiert wird und dabei stets die Delikte wie auch deren Wahrnehmung und Bewertung durch die Strafverfolgungsbehörden untersucht werden. Vielmehr wählt das Konzept auch eine langfristige Perspektive und vergleicht die derzeitigen Entwicklungen mit denen der 1990er Jahre und den diesbezüglich geführten Debatten.

[1] Bundesministerium des Inneren (Hrsg.): Politisch Motivierte Kriminalität im Jahr 2016. Bundesweite Fallzahlen. Link.
[2] Bundesministerium des Inneren (Hrsg.): Politisch Motivierte Kriminalität im Jahr 2016. Bundesweite Fallzahlen. Link, S. 10.
[3] Bundesministerium des Innern (Hrsg.) (2016): Verfassungsschutzbericht 2015. Link, S. 41.
[4] Virchow, Fabian (2017): Entgrenzung und Ordnung. Entstehung und Artikulation einer völkisch-nationalistischen Massenbewegung in Deutschland. In: Neue Kriminalpolitik, Jg. 29, Nr. 1, S. 36-48, S. 45; Opferperspektive (Hrsg.) (2017): Rechte Gewalt in Brandenburg auf unverändert hohem Stand. Link.
[5] Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG) (Hrsg.) (2017): Rechte, rassistische und antisemitische Angriffe in Ostdeutschland, Berlin und NRW im Jahr 2016. Presseerklärung vom 27.04.2017. Link.

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